„Mit CO₂ Geld verdienen“ - Prof. Dr. Franz Josef Radermacher

Der Ökonom und Informatiker Prof. Dr. Radermacher im Interview.

F-J-Radermacher_10_4c_klein.jpgDer Ökonom und Informatiker Prof. Dr. Radermacher berät weltweit Regierungen und Unternehmen zu ihren Klimastrategien. Eine moderne Kreislaufwirtschaft – so sein Plädoyer – sollte den Blick auf Kosten-Nutzen-Relationen richten und nicht nur auf die herkömmliche Trias von Vermeiden–Verwerten–Beseitigen. Das sei besser für Umwelt- und Klimaschutz – und brächte auch noch die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen voran.

Herr Radermacher, die Klimakrise beherrscht die Schlagzeilen. Wo stehen wir im Moment?

Wir sind im Moment aus meiner Sicht voll auf einem Kurs Richtung 3 bis 4 Grad Erwärmung. Wir haben zwar das Abkommen von Paris, aber dort sind die Ziele nicht mit Maßnahmen unterlegt. Die notwendigen Maßnahmen sind schmerzhaft und kosten sehr viel Geld.

Bei vielen Maßnahmen, die in Europa diskutiert werden, äußern Sie sich skeptisch. Wird Deutschland seine Minderungsziele schaffen?

Deutschland ist Teil von Europa und Europa hat seine Minderungsziele bisher immer präzise eingehalten. Deutschland erwirbt in diesem Kontext teilweise Emissionsrechte anderer EU-Staaten und zahlt dafür viel Geld. Insoweit erreichen auch wir unsere Ziele. Ich halte diese Frage im Übrigen auf einem globalen Level für ziemlich irrelevant, denn die CO₂-Emissionen in Deutschland machen jedes Jahr nur etwa zwei Prozent der weltweiten Emissionen aus. Gleichzeitig kommt auf diesem Globus jedes Jahr eine Bevölkerung in der Größe der Einwohnerschaft Deutschlands dazu. Deshalb ist das, was wir hier im CO₂-Bereich machen, für das Weltklima womöglich ziemlich belanglos. Die Klimafrage wird in China, Indien, Südostasien und vor allem in Afrika entscheiden. Unsere wichtigsten Beitragsmöglichkeiten liegen im Bereich Technologienentwicklung.

Wie gehen wir damit um?

Bei allem, was wir tun, müssen wir uns immer fragen: Was ist unser Beitrag dazu, dass insbesondere in Indien, Südostasien und Afrika der Prozess nicht völlig aus dem Ruder läuft? Das ist im Moment das eigentliche Problem.

Erneuerbare Energie, Wasserstoff, neue Treibstoffe, E-Mobilität. Was heute in Europa entwickelt wird, wird langfristig auch nach Afrika kommen.

Aber die technische Entwicklung ist leider zu langsam, es wird Jahrzehnte dauern, bis das auch etwa in Afrika übernommen wird. Diese Zeit haben wir nicht. Wir brauchen unbedingt zusätzliche Maßnahmen, die jetzt und sofort parallel ansetzen. Bei allen neuen Techniken sind zudem die Finanzierungsfragen unbeantwortet.

Was tun?

Wir schlagen vor, dass gerade die Menschen und Firmen, die besonders viel CO₂ verursachen, im großen Stil in Kompensationen einsteigen: Nimm dein Geld und stecke es als verlorenen Zuschuss in Projekte in Afrika oder in andere Entwicklungsländer. Das Geld ist weg, aber es fließt in Projekte, die CO₂ aus der Atmosphäre holen und gleichzeitig den Wohlstand in Afrika erhöhen und damit auch einen massiven Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung haben. Aus dem Geld für den Klimaschutz wird eine Investition in Gesundheit, Bildung, Wohlstand, also in die Social Development Goals der Vereinten Nationen, die sogenannten SDGs.

Wie soll das aussehen?

Wir plädieren unter anderem für die sieben „nature based solutions“: Aufforsten auf degradierten Böden in den Tropen, Humusbildung auf semiariden Böden an den Rändern der Wüste, konsequenter Regenwaldschutz, Schutz der Moore, Schutz der Feuchtbiotope, Aufbau von Mangrovenwäldern und Algenbildung im Ozean.

Reicht das für das Weltklima?

Nein, sämtliche „nature based solutions“ fangen 20 Prozent der Emissionen ein. Für mehr reicht es leider nicht. Aber 20 Prozent ist ja auch schon eine große Menge.

F-J-Radermacher_29_4c_min.jpgIn der Abfallwirtschaft ist die Müllvermeidung seit 30 Jahren das gesellschaftlich Gewollte. Aber der Müll wird nicht weniger und man setzt auf technische Lösungen. Wird es uns beim Thema Klimawandel auch so gehen?

Vermeiden alleine ist am Ende keine Lösung. Das hätte Armut zur Folge. Das war schon in der ganzen Menschheitsgeschichte so. Vor 300 Jahren hat Carl von Carlowitz als Bergassessor für die Silberminen in Sachsen massiv in die Bewirtschaftung der Wälder eingegriffen. Das Holz wurde als Energieträger für die Metallindustrie und im Atlantik und im Mittelmeer für Kriegsschiffe gebraucht. Aber am Ende war es keine Option zu sagen: Wir schränken den Holzverbrauch ein und stellen die Metallverarbeitung und die Marine für 70 Jahre auf „hold“. Stattdessen kam die „Dampfmaschine“ als neue technische Lösung. Die Dampfmaschine der Klimakrise werden die synthetischen Kraftstoffe sein. Das könnte durchaus auch eine interessante Option für die thermische Abfallbehandlung darstellen.

Welche Rolle kann die Müllverbrennung dabei spielen, synthetische Kraftstoffe herzustellen?

Erst einmal muss ich sagen, dass der Müll an sich für mich kein Problem ist. Für mich ist vollkommen klar, dass wir Müll erzeugen. Die Frage ist eher: Ist im Müll etwas drin, das wir dringend brauchen?

Kohlenstoff und Energie sind drin.

Dann sollten wir das rausholen. Plastik im Müll ist wie eine Ölquelle. Wir können ihn in Strom und Wärme umwandeln, wie es heute schon geschieht. Und dann sollten wir daraus auch Wasserstoff oder im nächsten Schritt Methanol machen.

Der Abschied von Müll- und CO₂-Vermeidung?

Es kommt bei der Dekarbonisierung nicht darauf an, dass wir die einzelnen Prozesse dekarbonisieren, sondern dass wir in der Summe weniger Karbon aus der Erde holen, als wir wieder einbringen – etwa mit „nature based solutions“. Das ist der entscheidende Punkt.

T 19 Lisa_Kristine_com_Kasigau_School_min.jpgPolitisch wird gefordert, dass man das CO₂ gerade da abfängt, wo Verbrennungsprozesse stattfinden. Dafür spricht, dass CO₂ im Abgas von Verbrennungsprozessen schon zur etwa 10 Prozent aufkonzentriert vorliegt. Anders als die 0,04 Prozent in der Luft. Doch die Kosten sind hoch …

CO₂ direkt abzufangen, ist oft eine gute Lösung. Über Aufforstung der Atmosphäre CO₂ zu entnehmen, ist auch eine gute Lösung. Wir müssen generell sicherstellen, dass wir möglichst viel Klimaeffekt fürs Geld bekommen. Wenn ich Geld für sinnvolle Projekte in Afrika einsetze und auch noch eine entwicklungspositive Wirkung erziele, dann ist das mehrfach positiv. Für mich ist das eine reine Kosten-Nutzen-Analyse.

Warum brennt Ihnen die Entwicklung in Afrika so unter den Nägeln?

Weil viel gerichtete Aktivitäten in Afrika die einzige Chance darstellen, dass die Zahl der Menschen bis 2050 bei 10 Milliarden einen Peak erreicht. Die Länder Südostasiens und Afrikas brauchen Bildung und Wohlstand, wenn wir den massiven Bevölkerungsanstieg stoppen wollen. Sonst haben wir 2100 schon 12 Milliarden Menschen auf der Erde. Das verträgt das Klima nicht.

Wann ist das Abfangen von CO₂ kosteneffizient?

Bald. Im Moment kostet das reine Abfangen etwa 30 Euro pro Tonne CO₂. Und aktuell kostet auch eine Tonne CO₂ im europäischen Emissionshandel schon knapp 25 Euro. Vor einigen Jahren wurde CO₂ dort noch für 5 bis 8 Euro gehandelt und Preise wie heute waren damals nicht in Sicht. Wir sind heute nicht mehr weit von den Kosten der CO₂-Abscheidung entfernt. Wenn jetzt auch noch eine CO₂-Steuer kommt, dann kann man mit dem Abfangen von CO₂ schon bald Geld verdienen.

Wie würden Sie sich heute verhalten, wenn Sie Chef eines kommunalen Abfallwirtschaftsbetriebs wären?

Zunächst: Ich habe einige kommunale Versorger erlebt, die sich von der Politik in grüne Projekte drängen ließen und dadurch ihre Stadtwerke in die Nähe der Insolvenz gebracht haben …

Zum Beispiel?

Ich will hier keine Städte nennen. Aber die Geschäftsführer mussten dann gehen.

Was heißt das?

Das heißt, dass ich als Geschäftsführer mein Erscheinen nach Außen und meine finanzielle Bilanz gleichzeitig im Blick haben muss. Ich muss, und das gehört einfach zur Jobbeschreibung, den Erwartungen meines Owners entsprechen – und das sind oft Politik und Öffentlichkeit. Gerade in so emotionalen Zeiten wie jetzt muss ich unbedingt auch etwas vor Ort beim Klima machen. Wasserstofftankstellen, entsprechende Busse, Versuche zur CO₂-Abscheidung, Elektroautos …

14 Greenhouse Meier Cucumber Copyright Climeworks Photo by Julia Dunlop_q.jpg15 Greenhouse Meier Climeworks Plant Background Copyright Climeworks Photo by Julia Dunlop_min.jpgDie thermische Abfallbehandlungsanlage sollte …

… dann auch über Kompensation nachdenken.

Damit setzen Sie am Ende des Dreiklangs Vermeiden–Reduzieren–Kompensieren an.

Dieser Dreiklang ist ein entscheidungstheoretischer Fehler. Vernünftigerweise würde man immer sagen: Wir müssen alle uns zur Verfügung stehenden Optionen in intelligenter Weise parallel nutzen. Das ist ein Optimierungsproblem und diese Optimierung muss je nach spezifischer Situation gelöst werden.

Gerade in Deutschland wurde mit der thermischen Behandlung von Abfällen viel erreicht. Das sieht man besonders, wenn man in Entwicklungsländer schaut, wo wilde Mülldeponien, Verwehung von Plastik, Gift in Boden und Wasser sowie Methan-Emissionen die Regel sind. Wäre der Ausbau von thermischen Abfallbehandlungsanlagen mit Energiegewinnung dort auch mithilfe von Kompensationszahlungen nicht etwas, das sich aufdrängt?

Es gibt die Verbindung zum Klima über Methan aus Deponien – das macht es zusätzlich interessant. Denn hier kommen CO₂-Vermeidung und eine positive Entwicklung im Sinne der SDGs zusammen. Das ist auch für uns eine gute Incentivestruktur, warum man mit dem Abfall in Entwicklungsländer klüger umgehen sollte, als das heute geschieht. Das sollten wir mitfinanzieren.

Was macht in dieser Situation ein Verband wie ITAD?

Das wissen die Verantwortlichen sicher selbst am besten. Aus meiner Beobachterperspektive empfehle ich eine offensive Kommunikation beim Thema „Klimawandel“ und weiter mit gutem Beispiel voranzugehen, sich also selber positiv zu verhalten. Immerhin stellt sich ITAD schon seit einigen Jahren vorbildlich klimaneutral, engagiert sich bei der CO₂-Abscheidung und bei Kompensationslösungen. Dass ITAD der „Allianz für Entwicklung und Klima“ beigetreten ist, ist ein wichtiger Schritt. Natürlich kann man dann auch die Frage aufwerfen, ob beispielsweise die Verbraucher eine Kompensationszahlung bei den Produkten aufbringen, die am Ende verbrannt werden müssen.

Was macht Sie eigentlich so sicher, dass es genügend Firmen und reiche Privatpersonen gibt, die freiwillige Kompensationen leisten?

Ich treffe Leute, die etwa in einem Private-Wealth- oder einem Owners-Forum sitzen. Denen gehört etwa die Hälfte des gesamten Eigentums auf unserer Erde. Diese Leute haben unglaubliche Freiheiten und können sehr erfüllte Leben leben, mit permanenten Reisen und in großem Luxus. Das führt individuell zu CO₂-Emissionen, die zum Teil hunderte Mal so hoch sind wie die eines durchschnittlichen Bürgers in Deutschland. Die Klimakatastrophe droht sehr viel vom Eigentum dieser Personen zu vernichten und diese Menschen erwarten inzwischen auch für sich persönlich massive Einschränkungen ihrer Freiheit, wenn das Klimaproblem nicht gelöst wird: kein SUV mehr, Tempo 100, nur noch dreimal im Jahr mit dem Flugzeug in den Urlaub. Wenn die Klimakatastrophe bei der überwiegenden Mehrheit der sehr viel ärmeren Menschen ankommt – und das sind wir ja alle – dann kann das alles ganz schnell gehen. Also tut der reiche Teil der Menschheit gut daran, dazu beizutragen, dass das Klimaproblem gelöst wird. Diese Gruppe hat die höchsten Incentives, eine Klimakatastrophe zu verhindern.

F-J-Radermacher_43_4c_min.jpgAber einen Donald Trump erreichen sie dennoch nicht.

Seien Sie sich da nicht so sicher. Trump hat auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos verkündet, die „Trillion Trees Campaign“ zu unterstützen. Ich weiß nicht, ob er den Klimawandel für real hält. Aber Kompensationen mit Aufforstung zu leisten, ist etwas anderes: Man kann kaum gegen mehr Wälder sein.

Welche Unternehmen sind schon aktiv in Kompensationen eingestiegen?

ITAD als Verband ist bereits seit einigen Jahren klimaneutral. Aufseiten der großen produzierenden Unternehmen war die Robert Bosch GmbH die erste, die dieses Jahr klimaneutral sein wird. Inzwischen ist im Pharmabereich Noventi dazu gekommen, die 20.000 Apotheken in Deutschland bis Ende 2021 klimaneutral stellen wollen. Microsoft gehört zu den Vorreitern. Das Unternehmen will sämtliche CO₂-Emissionen seit der Firmengründung 1976 ausgleichen, inklusive der Lieferkette. Ich könnte weitere Beispiele nennen: die Spedition Kühne&Nagel als größter Container-Verschiffer der Welt, der Fußballbundesligaverein TSG Hoffenheim, die Munich Re, das Entwicklungshilfeministerium … Was im letzten halben Jahr passiert ist, ist sensationell.

Zur Person: Prof. Dr. Franz Josef Radermacher lehrt Informatik an der Universität Ulm und ist Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung FAW/n. Bekannt geworden ist er unter anderem durch sein Eintreten für eine weltweite ökosoziale Marktwirtschaft und durch sein Engagement in der Global Marshall Plan Initiative, die sich seit 2003 für eine gerechtere Globalisierung einsetzt. Er ist Mitglied des Club of Rome und Präsident des Senats der Wirtschaft e.V. In seinem aktuellen Buch „Der Milliarden-Joker“ setzt er sich für Kompensationszahlungen als zusätzliches Instrument für den Klimaschutz ein. Dazu unterstützt er auch die „Allianz für Entwicklung und Klima“ des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) (allianz-entwicklung-klima.de).

August 2020, aus: ITAD-Jahrbuch 2019.
Interview: Marcus Franken, Ahnen&Enkel