„Wird Osteuropa das neue China der Müllschieber?“ - Manfred Santen

Manfred Santen, Schadstoffexperte von Greenpeace, über skrupellose Müllschieber und schlechtes Recycling.

20_11_15_Illegale_Muelldeponien_JonasWresch_2433-2-MIN.jpgAllein in Brandenburg sind 127 illegale Mülldeponien bekannt. Dort verrotten rund fünf Millionen Tonnen Industrie- und Haushaltsmüll auf Brachflächen wie Kiesgruben, ehemaligen Militäranlagen oder LPG-Ruinen. Manfred Santen, Schadstoffexperte der Umweltorganisation Greenpeace, über skrupellose Müllschieber, untätige Behörden und schlechtes Recycling.

Herr Santen, man sollte meinen, illegale Deponien seien seit den 90ern beseitigt. Ist das Thema immer noch aktuell?

Leider ja. Am Rande vieler Städte und Gemeinden in Deutschland findet sich Müll auf ungesicherten Lagerplätzen. Wir kennen Fälle aus Bayern, Niedersachsen und anderen Bundesländern. In Brandenburg haben Michael Billig und Marius Münstermann für das Greenpeace Magazin gezeigt, wie die Müllberge teilweise über Jahrzehnte wachsen. Die zuständigen Behörden reagieren kaum. Der Abfall wird für vermeintliches Recycling oder zur Vorbehandlung angenommen, endet dann aber auf vorgeblichen Zwischenlagern. Von oben wirken Sonne und Regen auf das Material, nach unten können Schadstoffe ins Trinkwasser sickern. Es ist erschreckend, dass man solche Zustände noch immer mitten in Deutschland findet.

Was glauben Sie, wie solche Deponien zustande kommen?

In Deutschland ist es manchmal nicht viel anders als in Malaysia. Man kann alle Abfälle loswerden, wenn man nur lange genug nach einer Firma sucht. Die Sortieranlagen profitieren von den geringen Preisen für die Entsorgung. Einige Händler kassieren ab, verarbeiten den Müll dann aber nicht, sondern verschieben ihn oder lassen ihn liegen. Wer das im Einzelfall ist, das weiß man erst nach vernünftigen Ermittlungen.

Haben Sie eine Vermutung?

Die Recherchen des Greenpeace Magazins deuten auf ein Netz mit Unternehmen vom Mittelständler bis zum Großkonzern hin. Das ist ein Ring aus Müllmaklern, Spediteuren und dubiosen Geschäftsleuten. Oft werden verschiedene Tochterfirmen gegründet, um die Geschäfte zu verschleiern. Der Grund ist einfach: Laut Bundeskriminalamt ist Abfallkriminalität lukrativer als der Handel mit Drogen.

Um was für Müll handelt es sich?

In Schönermark, im Nordosten Brandenburgs wurde alles Mögliche gefunden. Bis zu zehn Meter hoch stapelt sich hier der rostige Elektroschrott, Batterien, Druckerpatronen und Plastikmüll in allen Formen und Farben. Meist sind das Postconsumer-Abfälle, also Haushaltsabfälle aus dem Konsumsektor wie Verpackungen. Da werden Materialien abgelagert, die kaum recycelt werden können, weil sie aus einem Mix verschiedener Kunststoffe bestehen. Papierkaschierte Plastikfolien zum Beispiel. Und der Müll kommt nicht nur aus Deutschland, sondern wurde in diesem einen Fall auch aus Dänemark hergebracht. Daneben finden sich aber auch gewerbliche Abfälle, wie zum Beispiel stark schwermetallhaltige Stäube, die aus Filteranlagen stammen könnten.

Kann man Strukturen erkennen?

Wir sind hier in einem kriminellen Bereich, die Strukturen können wir noch nicht benennen. Es stehen bestimmte Firmen aus Norddeutschland im Verdacht. Wir wissen noch nicht genau, welche Abfälle verschoben werden: Aber wir finden aus allen Bereichen etwas, egal ob Hausmüll, Produktionsreste oder Sondermüll. Und das Landeskriminalamt Brandenburg sagt uns über die Müllschieber: „Wenn sich die Möglichkeit ergibt, machen sie illegale Geschäfte.“

Und die Behörden schauen zu? Immer­ hin wurden auch Filterstäube aus der industriellen Abluftreinigung gefunden.

Für Schönermark gab es eine Erlaubnis zur Zwischenlagerung von 5.000 Tonnen Abfall. Daran war die Bedingung geknüpft, dass der Abfall für die thermische Abfallbehandlung aufbereitet wird. Mittlerweile sind es über 62.000 Tonnen und die Betreiberfirma ist insolvent. Für die Landesregierung hat die Beräumung oberste Priorität. Um die Verantwortlichen zu finden laufen zwar Ermittlungen, aber die dauern Jahre und führen meist nur zu geringen Bußgeldern.

Wie wirkt sich die Abfallablagerung auf die Umgebung aus?

Eine Wasseruntersuchung hat eine erhöhte Konzentration von Schwermetallen gezeigt. In einer anderen Probe wurden Weichmacher gefunden, die u.a. die Fortpflanzung beeinträchtigen. Wenn solche wilden Deponien in der Nähe von Siedlungen liegen, können die Schadstoffe früher oder später ins Trinkwasser gelangen. Zusätzlich haben die Behörden in sieben Jahren sieben Brände auf dem Gelände dokumentiert. Durch die Verbrennung entstehen zusätzliche Schadstoffe, die sich durch die Luft noch schneller verbreiten können. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.

Sie nennen beispielhaft eine illegale Deponie in Brandenburg. Wie sieht es jenseits der Grenze aus?

Osteuropa könnte nach China das nächste Ziel der Müllschieber werden. Der Grund ist, dass Peking 2018 die Grenzen für verunreinigten Abfall dicht gemacht hat. Jetzt muss die Sortierung und Aufbereitung außerhalb von China passieren. Nur deswegen wird das jetzt für uns sichtbar. Eine Zeit lang waren die Nachbarn von China betroffen: Malaysia, Indonesien und Vietnam. Aber auch die haben reagiert und die Grenzen weitgehend zugemacht. Jetzt sind neben der Türkei auch europäische Länder an der Reihe. Sie übernehmen die Aufgabe, die frü- her unter unwürdigen Bedingungen in China stattgefunden hat. In Polen und Tschechien wurden schon tausende Tonnen deutscher Abfälle auf illegalen Deponien entdeckt.

Der Verpackungsmüll hat in Deutschland laut Umweltbundsamt 2018 neue Höchststände erreicht. Was ist Ihre Lösung für das Problem?

Die Müllvermeidung muss schon beim Design der Produkte anfangen. Wir brauchen viel mehr sortenreine Kunststoffe in den Produkten und weniger Sandwich-Konstruktionen und Spezialkunststoffe. Dann könnten die Recyclingverfahren besser greifen und es stünde auch deutlich mehr hochwertiges Rohmaterial zur Verfügung. Ich bin der Meinung, dass die Potenziale der Recyclingindustrie auch bei Kunststoffen noch lange nicht ausgeschöpft sind. Die Politik könnte durch eine klar festgelegte Recyclingquote einen hilfreichen Beitrag leisten.

Woran hakt es?

Produzenten geben oft an, dass eine Verpackung recycelbar ist. Aber nur weil etwas im gelben Sack landet, ist es noch nicht stofflich verwertbar. Mit der Hälfte des Materials weiß niemand für das stoffliche Recycling etwas anzufangen. Es heißt gar nichts, wenn Firmen wie Nestlé und Unilever behaupten, dass ihr Verpackungsmaterial bis 2025 recyclebar ist. Niemand weiß, wie das funktionieren soll. Es gibt keine Verwendung dafür. Und die Firmen machen dazu auch keine Angaben.

Haben Sie sich den Glauben daran bewahrt, dass trotz des immer weiteren Anwachsens des Verpackungsmülls auch die Verbraucherinnen und Verbraucher eines Tages spürbar zur Müll­ vermeidung beitragen?

20_11_15_Illegale_Muelldeponien_JonasWresch_2613-1-MIN.jpgImmerhin sieht man, dass immer mehr Leute plastikfrei leben möchten und zu wiederverwendbaren Flaschen und Behältern greifen. Auch große Festivals oder Fußballclubs verzichten inzwischen auf Einwegplastik und die Politik hat Einweglösungen in vielen Fällen verboten. Ich hoffe weiter, dass das zu einem Umdenken führt.

Zum Schluss: Wie geht es nun in Brandenburg weiter?

Die Umweltbehörden versuchen jetzt, diese wilden Müllkippen zu räumen. Das wird wegen der rechtlichen Schwierigkeiten Jahre dauern und allein in Brandenburg rund 500 Millionen Euro kosten. Das zahlen nun die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Die Schäden für Mensch und Umwelt sind da noch nicht eingerechnet. 

Zur Person: Manfred Santen ist Diplom-Chemiker und arbeitete viele Jahre zu Problemstoffen und Schadstoffexposition. Er publiziert zu den Themen Pestizide, Gebäude- und Innenraumschadstoffe, Feinstaub und Asbest. Seit 2009 arbeitet er bei Greenpeace Deutschland als Chemieexperte.

März 2021, aus: ITAD-Jahrbuch 2020.
Interview: Marcus Franken, Ahnen&Enkel