Kohlenstoff – zurück in die Wirtschaft

ITAD-Mitglieder entwickeln Konzepte, um den Kohlenstoff im Kreislauf zu führen.

Deutschland will bis 2045 klimaneutral werden. Um den Kohlenstoff im Kreislauf zu führen, entwickeln ITAD-Mitglieder unterschiedliche Konzepte für Wasserstoff, grüne Kraftstoffe und CO₂-Abscheidung.

Wir schreiben das Jahr 2040. Wenn Werksleiter Marius Stöckmann frühmorgens aufs Gelände kommt, passiert er Anlagen, die mehr nach Chemie als nach Abfallbehand­lung aussehen: mehrere hoch aufragende Kolonnen, kreuz und quer verlaufende Rohrleitungen, Flüssigkeitstanks, einen grün eingehausten Elektrolyseur und zwei Tankstellen unweit des Haupttors.

Hier am Standort Zella-Mehlis der Restmüllbehandlungsanlage des Zweckverbands für Abfallwirtschaft Südwestthüringen (ZASt) arbeitet bereits seit etwa 15 Jahren eine kleine chemische Fabrik. Sie produziert, woraus die Träume der Klimaschützer sind: klimaneutrales Methanol, hergestellt aus grünem Wasserstoff (H₂) und dem Treibhausgas Kohlendioxid (CO₂), das ein Aminwäscher aus dem Rauchgas abschei­det. Das Methanol deckt den Eigenbedarf der TAB – Stützfeuer und Ersatzkessel –, außerdem treibt es als Biokraftstoff die gesamte Flotte der Sammelfahrzeuge an. Seit Kurzem debattiert der Zweckverband über eine erneute Erweiterung der Pro­duktionskapazität, denn immer mehr Chemiebetriebe und Tankstellenbetreiber der Region melden Interesse an, dem ZASt das Methanol abzukaufen.

Die Chemie stimmt

Bagger mit Altholz.Die Thermische Abfallbehandlungsanlage des Zweckverbands Südwestthüringen existiert, Elektrolyseur, Aminwäscher, Methanolproduktion und Methanoltank ste­hen noch nicht. „Wenn alles klappt, gehen wir Ende 2023 in den Probebetrieb“, sagt Stöckmann. CO₂-Abscheidung und der interne Kohlenstoffkreislauf mindern die Treibhausgasemissionen der Anlage in der ersten Ausbaustufe um mindestens zehn Prozent. Dazu kommen die Minderungen durch den Ersatz von Dieselkraftstoff. Wenn die Rechnung aufgeht, bringt das neue Konzept der ZASt nicht nur weniger Emis­sionen, sondern außerdem jährlich einen Gewinn von 14 Millionen Euro. Stöckmann: „Die Produktion von Methanol könnte sich wirtschaftlich rechnen im Vergleich zum Verkauf unseres Überschuss-Stroms an der Strombörse.“

Nicht nur der Zweckverband Südwestthüringen macht sich Gedanken, wie ther­mische Abfallbehandlung CO₂-ärmer oder klimaneutral wird. Etwa zwei Drittel der TAB-Betreiber in Deutschland entwickeln derzeit Konzepte, Machbarkeitsstudien und Emissionsszenarien für ihren Standort. Der Grund: Deutschland hat den Weg zur Klimaneutralität mit konkreten Minderungszielen für einzelne Wirtschaftssektoren unterlegt. „Die thermische Abfallbehandlung ist Teil der Wirtschaft und wir gehen das Thema Klimaneutralität entschlossen an“, betont Martin Treder, stellvertreten­der Geschäftsführer der ITAD.

Substitutionseffekte schwinden

CO₂-Einsparung ist für die TAB nichts Neues. Durch die Substitution von fossilen Ener­gien und die Rückgewinnung wertvoller Rohstoffe wie Metalle spart die thermische Abfallbehandlung derzeit mehr CO₂ ein als sie verursacht. 2021 lag die Einsparung durch die ITAD-TAB bei rund 7,4 Millio­nen t CO₂eq. Das ist mehr, als nach Be­rechnung des Umweltbundesamtes ein scharfes Tempolimit von 100 km/h auf deutschen Bundesautobahnen bewirken könnte.

Doch die Vorzeichen ändern sich. Je hö­her der Anteil erneuerbarer Energien im Strommix wird, umso kleiner werden die Substitutionseffekte. Zudem len­ken gesetzliche Vorgaben immer mehr Bioabfälle und Kunststoffe in eigene Stoffkreisläufe. Das bedeutet: Im „kli­maneutralen Deutschland“ gehören die Thermischen Abfallbehandlungsanlagen mit zu den größten Treibhausgasemit­tenten.

Mehr Effizienz, weniger Emissionen

Allerdings sind Abfallverbrennungsan­lagen keine klassischen Kraftwerke und Abfall ist kein klassischer Brennstoff. TAB-Betreiber haben wenig Einfluss auf Zusammensetzung und Menge ihres In­puts und damit wenig Einfluss auf die entstehenden Emissionen.

Dennoch können TAB-Betreiber ihre Treibhausgasemissionen deutlich redu­zieren. Die Mannheimer MVV Energie AG beispielsweise setzt auf einen klassi­schen, aber wirkungsvollen Hebel: Effizi­enzsteigerung. Die sieben thermischen Behandlungsanlagen des Unterneh­mens emittieren derzeit etwa 1 Million t fossiles CO₂ pro Jahr. Um die Emissionen zu senken, sieht Dr. Mathias Onischka, Leiter der Abteilung Nachhaltigkeit bei MVV, mehrere Wege: Bisher isolierte Anlagen zur Strom- und Wärmeerzeu­gung werden zur Kraft-Wärmekopplung verbunden. Beispielsweise soll ab 2024 die thermische Altholzverwertung auf dem Gelände der TAB in Mannheim in die Wärmeerzeugung eingekoppelt werden. Daneben verspricht die Nutzung von Niedertemperaturwärme für Nah- und Fernwärmenetze positive Effekte für die Emissionsbilanz. „Effizienz bietet für viele TAB-Standorte in Deutschland noch ungenutztes Potenzial“, ist Onisch­ka überzeugt.

Auch die Eigenversorgung mit erneuer­baren Energien verspricht eine bessere CO₂-Bilanz. Die MVA Müllverwertungs­anlage Bonn GmbH beispielsweise ist da­bei, die Betriebsstoffe auf CO₂-neutrale Substitute umzustellen, und plant die Installation von PV-Anlagen an Fassa­den und von kleinen Windturbinen auf Dächern am Standort.

TAB als Baustein der Sektorenkopp­lung

Große lange Rohre vor blauem HimmelDer Klimaschutz spricht seine eigene Sprache. Eines der Schlagworte ist die sogenannte Sektorenkopplung: Dahinter steckt das Konzept, die Sektoren Strom, Wärme, Mobilität und Industrie über Energienetze, -speicher und -wandler zu verbinden. Das eröffnet erstmals Mög­lichkeiten, erneuerbare Energie wie auf einem Verschiebebahnhof zur Dekar­bonisierung auch anderer Sektoren zu nutzen.

Für TAB heißt das beispielsweise: Mit der Elektrizität aus der Abwärmever­tromung kann über einen Elektrolyseur klimaneutraler Wasserstoff hergestellt werden und in weiteren Prozessen so­gar Methanol. Werden Wasserstoff und Methanol als Kraftstoffe für Fahrzeuge genutzt, profitiert der Verkehrssektor – traditionell ein Sorgenkind des Klima­schutzes. Auch standortnahe Industrie­betriebe können mit grünem Wasser­stoff, Methan oder Methanol versorgt werden und damit fossile Einsatzstoffe ersetzen. Durch „kalte Fernwärme“ und bessere Abwärmenutzung gelingt zu­dem eine Dekarbonisierung auch im wichtigen Gebäudesektor.

Wasserstoff macht mobil

Ein Vorreiter in Sachen Sektorenkopp­lung ist die AWG Abfallwirtschaftsgesell­schaft mbH Wuppertal. Ein kleiner Teil des im Müllheizkraftwerk (MHKW) er­zeugten Stroms wird seit 2020 genutzt, um in einem 1-MW-Elektrolyseur Was­serstoff zu erzeugen. Per Brennstoff­zelle können derzeit 20 Linienbusse und zwei Abfallsammelfahrzeuge nahezu emissionsfrei damit fahren. Im Betrieb kosten die Wasserstoffbusse nicht mehr als Dieselbusse, „der Engpass ist eher die Beschaffung der Fahrzeuge, weil es dafür bisher nur sehr wenige Hersteller gibt“, sagt Projektleiter Willy Görtz. In­nerhalb der kommenden Jahre ist eine Verdopplung der H₂-Flotte geplant, die erzeugte Wasserstoffmenge soll von ak­tuell 21 t bis auf 50 t steigen.

Auch die AGR Abfallentsorgungs-Gesell­schaft Ruhrgebiet mbH (AGR) setzt auf „Waste-to-Wheel“. Bis Ende 2022 sollen auf dem Gelände der TAB in Herten eine H₂-Produktion und eine H₂-Tankstelle entstehen. In einem 3-MW-Elektrolyseur will die AGR mindestens 440 t Wasser­stoff im Jahr erzeugen und damit Fahr­zeuge der anliefernden Kommunen und der eigenen Lkw-Flotte betanken, aber auch Gewerbe und Industrie in der Re­gion beliefern. Wichtig dabei: „Den für die Wasserstofferzeugung benötigten Strom werden wir aus zusätzlichen Ef­fizienzmaßnahmen gewinnen“, betont AGR-Sprecher Dr. Jürgen Fröhlich.

Der Frankfurter Energieversorgung Mai­nova plant gar eine H₂-Infrastruktur für die gesamte Region um Frankfurt – als Blaupause für andere Ballungsräume. Den Strom soll das Müllheizkraftwerk Nord­weststadt liefern, auch H₂-Erzeugung und -abfüllung erfolgen direkt am MHKW. Über ein zentrales Versorgungslager werden dann verschiedene Mobilitäts­kunden beliefert, um die Verkehrswende in der Region voranzubringen.

Wie auch immer das Konzept aussieht: Es gibt keine Lösung, die auf jeden Stand­ort passt. Ausschlaggebend sind unter anderem das Netzwerk, in das eine Anla­ge als Strom- und Wärmelieferant einge­bunden ist, die Entfernung zu möglichen Kunden und Abnehmern für H₂, Methan oder Methanol, außerdem logistische Randbedingungen, die Wirtschaftlichkeit von Verfahren und auch scheinbar ganz simple Fragen: Ist genug Überschuss-Strom vorhanden, um Wasserstoff zu erzeugen? Gibt es ausreichend Platz für Elektrolyse, Gaslager und Tankstellen?

Klimaneutral – wie geht das?

Nahezu alle Branchen stehen vor der gleichen Wahrheit: Auch wenn sämtli­che Minderungskonzepte greifen, steht am Ende keine Null. Der Thinktank Agora Energiewende geht davon aus, dass im Jahr 2045 deutschlandweit etwa 63 Mil­lionen t CO₂eq Restemissionen bleiben, wovon 4 Millionen t CO₂eq aus der ther­mischen Abfallbehandlung stammen. Diese Emissionen müssen durch techni­sche Verfahren abgeschieden und ent­weder in tiefen Speichern endgelagert werden (Carbon Capture and Storage, CCS). Oder das Treibhausgas kann als chemischer Rohstoff zurück in die Pro­duktion gelangen (Carbon Capture and Utilization, CCU). Chemiebetriebe nutzen CO₂ etwa für die Herstellung von Kunst­stoffschäumen.

Dass es ohne Abscheidung nicht geht, ist unter Experten unbestritten. „Das Ziel der Klimaneutralität ist ohne CO₂-Entnahmen nicht erreichbar“, konsta­tiert beispielsweise der Ariadne-Report von Oktober 2021 für das Bundesfor­schungsministerium. Da ein Teil des Ab­falls immer biogenen Ursprungs ist, kön­nen mit CCU und CCS negative Emissionen erreicht werden, indem der Atmosphäre mehr Kohlenstoff entzogen wird als bei der Verbrennung entsteht. „Die thermi­sche Abfallbehandlung sieht in Carbon Capture and Use or Storage ein wirk­sames Werkzeug zur Minderung des CO₂-Fußabdrucks und zur Erzielung von Negativemissionen“, schreibt die europäi­sche Confederation of European Waste-to-Energie Plants (CEWEP) in ihrer neuen Climate Roadmap.

Erste Abgaswäscher im Pilotbetrieb

Fabrikgebäude, grau.An einigen europäischen Standorten finden CCS und CCU schon statt. Die niederländische AVR Afvalverwerking trennt seit 2019 in der TAB Duiven, 120 Kilometer östlich von Rotterdam, CO₂ aus dem Rauchgas ab und liefert es per Lkw an Gewächshausbetriebe. Dort wird das Treibhausgas benötigt, um das Wachs­tum von Gemüse und Obst zu beschleu­nigen. Vor allem im Sommer mindert das CO₂ aus der Abfallbehandlung daher den Verbrauch an Erdgas. In Hengelo unweit von Enschede wird das abgeschiedene CO₂ in Natriumbicarbonat umgewandelt, das saure Verbindungen aus dem Rauch­gas der TAB abscheidet. Das spart Roh­stoffe und verbessert den ökologischen Fußabdruck der Rauchgasreinigung. Im norwegischen Klemetsrud bei Oslo be­treibt der finnische Energieerzeuger Fortum derzeit eine Versuchsanlage zur CO₂-Wäsche, will aber ab 2025 bereits 400.000 t pro Jahr abscheiden (das ent­spricht über 90 Prozent der Gesamt­emissionen) und per Schiff und Pipeline zu Lagerstätten in der Nordsee bringen. Im Juni 2021 ging an der TAB Amager Bakke in Kopenhagen – bekannt durch die künstliche Skipiste auf dem geneig­ten Dach – ebenfalls eine Pilotanlage in Betrieb, die im Endausbau 500.000 t CO₂ abscheiden will.

EU: 40 Millionen Tonnen CO₂ weniger durch CCS

Der TAB in Deutschland stehen diese Schritte noch bevor. Nahezu alle Betrei­ber, die sich mit Klimaschutzkonzepten beschäftigen, planen auch für CCS oder CCU. Vieles ist dabei noch in der Schwebe: Welches Verfahren – zum Beispiel Amin­wäsche oder Druckwechseladsorption – ist für welchen TAB-Standort am bes­ten geeignet? Wie teuer und wie tech­nisch anspruchsvoll sind die Verfahren? Wohin mit dem CO₂? Die Mannheimer MVV beispielsweise will abgeschiedenes Treibhausgas in Richtung Endlager in der Nordsee transportieren, ist aber auch in Gesprächen mit großen Chemieunter­nehmen. Die MVA Bonn untersucht der­zeit gemeinsam mit der RWTH Aachen das Potenzial einer trockenen und damit energiesparenden Aminwäsche.

Die europäische CEWEP hat nachge­rechnet: Eine mögliche Integration von Technologien zur Nutzung und Speiche­rung, selbst wenn sie nur 50 Prozent Ab­scheidungsrate hätten und bei der Hälfte der europäischen Anlagen zum Einsatz kämen, könnte zu einer negativen Netto-Kohlenstoffbilanz von -440 kg CO₂eq pro Tonne behandelten Abfalls führen. Ins­gesamt resultiert daraus für den euro­päischen TAB-Sektor eine Netto-Kohlen­stoffeinsparung von etwa 20 Millionen t CO₂eq pro Jahr. Bei einer Abscheidungs­rate von 90 Prozent bei mindestens der Hälfte der Standorte läge das Einspa­rungspotenzial gar bei rund 40 Millio­nen t CO₂eq pro Jahr in Europa.

Auch hier gilt: Die Anwendung von Tech­nologien zur Nutzung und Speicherung ist stark abhängig vom Standort und der jeweiligen Anlage. Einige TAB werden in der Lage sein, ein vollständiges CO₂-Abscheidungssystem zu installieren und zu betreiben, für andere sind Teillösun­gen die bessere Wahl. Wie auch immer die individuellen Konzepte aussehen: Entscheidend für alle sind geeignete ge­setzliche Rahmenbedingungen. Darauf weist die TAB-Roadmap 2040 des ITAD hin. Der Verband fordert, nicht vermeid­bare Abwärme regulatorisch wie erneu­erbare Energie zu behandeln und die TAB als CO₂-Senke beziehungsweise als „Kli­maschutz-Dienstleister“ anzuerkennen. ITAD-Geschäftsführer Spohn ist sicher: „Unter diesen Randbedingungen wird die thermische Abfallbehandlung auch über das Jahr 2040 hinaus eine Netto-Klima­senke bleiben.“

aus: ITAD-Jahrbuch 2021.